Rechtsprechung
OLG Hamm, Urteil vom 11.12.2007 - 4 U 132/07
Veröffentlichung ungeschwärzter Gerichtsentscheidungen - Die Mitteilung von Gerichtsentscheidungen - unter ungeschwärzter Namensnennung der Prozessvertreter auch der unterlegenen Partei - kann im Einzelfall noch von der Mitteilungs- und Meinungsfreiheit gemäß Art. 5 GG gedeckt sein.
GG Art. 5; BGB §§ 823 Abs. 1, 1004
Leitsätze:*1. Ein Anspruch aus §§ 823 Abs. 1, 1004 BGB unter dem Gesichtspunkt eines Eingriffs in den eingerichteten und
ausgeübten Gewerbebetrieb setzt einen betriebsbezogenen Eingriff, d.h. eine unmittelbare Beeinträchtigung
des Gewerbebetriebes als solchem voraus. Der Eingriff muss sich spezifisch gegen den betrieblichen Organismus
oder die unternehmerische Entscheidungsfreiheit richten und über eine bloße Belästigung oder sozial übliche
Behinderung hinausgehen (BGH NJW 2003, 1040; 2004, 356). Bloß mittelbare Beeinträchtigungen oder auch allgemeine
Kritik sind hierfür grundsätzlich nicht ausreichend.
2. Erfolgt die vollständige - ungeschwärzte - Namensnennung der Anwälte einer Prozesspartei bei der
Internetveröffentlichung von Urteilen nur nebensächlich einer Kritik an der Prozesspartei, liegt ein
zielgerichteter Eingriff gegen den "Betrieb" der Anwälte nicht vor.
3. Zwar kann die Veröffentlichung verlorengegangener Prozesse unreflektiert auch auf die Beurteilung der Leistung
der, die unterlegene Partei vertretenen, Anwälte durchschlagen. Indes kann eine derartige "Beeinträchtigung", soweit
sie im Rahmen einer üblichen Interessenwahrnehmung erfolgt, keineswegs als ausreichend angesehen werden, um eine
erhebliche Verletzung der Persönlichkeitsrechte der betroffenen Anwälte bejahen zu können.
4. Die so genannte Individualsphäre in ihren beruflichen Ausprägungen - als Teil des Persönlichkeitsrechts -
schützt das Selbstbestimmungsrecht und bewahrt die persönliche Eigenart des Menschen in seinen Beziehungen zur
Umwelt (Sozialsphäre), seinem öffentlichen, wirtschaftlichen, beruflichen Wirken.
Der Persönlichkeitsschutz verbietet hier jedenfalls schwerwiegende Eingriffe in das Persönlichkeitsrecht,
insbesondere durch Stigmatisierung und Ausgrenzung (BGH NJW 2005, 592).
Ist insoweit allein das berufliche Umfeld betroffen, also ein Bereich, in dem sich ihre persönliche Entfaltung von vornherein
im Kontakt mit der Umwelt vollzieht, und zwar zudem nur in einem Bereich, der (hier) in einem bestimmten Rahmen
ohnehin mit dem öffentlichen Auftreten als Rechtsvertreter der Partei verbunden ist, sind Eingriffe in diese Sphäre nur
verboten, wenn derartig schwerwiegende Auswirkungen - vergleichbar mit einer Stigmatisierung oder sozialer Ausgrenzung -
vorliegen (hier verneint).
5. Die bloße - ungeschwärzte - Namensnennung eines Prozessvertreters im Rahmen einer Internetveröffentlichung von Gerichtsurteilen
gestaltet sich grundsätzlich neutral. Auch wenn die Namensnennung im konkreten Fall überflüssig ist, um über das zu Grunde
liegende Verfahren zu berichten, liegt jedenfalls dann eine lediglich beiläufige und geringfügige Beeinträchtigung
der namentliche Benannten vor, wenn wahre Tatsachen mitgeteilt werden und sich die Namensnennung weder als ehrenrührig darstellt
noch der Vorwurf eines fehlerhaften, verwerflichen oder sonst missbräuchlichen Verhaltens enthalten ist. Allein die Tatsache, dass
die namentlich Benannten auf der "Verliererseite" stehen genügt nicht.
6. Die ungeschwärzte Mitteilung von Gerichtsentscheidungen - unter ungeschwärzter Namensnennung der Prozessvertreter auch
der unterlegenen Partei - kann im Einzelfall noch von der Mitteilungs- und Meinungsfreiheit gemäß Art. 5 GG gedeckt sein.
Die Mitteilungs- und Meinungsfreiheit gebietet nicht ausschließlich sachlich begründete Äußerungen zu tätigen und verpflichtet
nicht, überflüssige Umstände grundsätzlich nicht zu offenbaren.
7. Das Recht auf "informationelle Selbstbestimmung" stellt sich als die Befugnis des Einzelnen dar, grundsätzlich selbst
darüber zu entscheiden, ob, wann und innerhalb welcher Grenzen seine persönlichen Daten in die Öffentlichkeit gebracht werden
(vgl. BVerfGE 65, 1, 41ff; BVerfGE 72, 155, 170; BVerfGE 78, 77, 84). Auch dieses Recht ist aber nicht schrankenlos gewährleistet.
Der einzelne hat, weil er seine Persönlichkeit innerhalb der sozialen Gemeinschaft entfaltet, keine absolute,
uneingeschränkte Herrschaft über "seine" Daten. In dieser stellt aber die Information, auch soweit sie personenbezogen
ist, einen Teil der sozialen Realität dar.
Bearbeiter: Ass. iur. Thomas Gramespacher
Online seit: 29.01.2008
Kurz-Link zum Artikel: http://miur.de/1499
*Redaktionell. Amtliche Leit- und Orientierungssätze werden in einer "Anm. der Redaktion" benannt.
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