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Rechtsprechung // Zivilrecht



BGH, Urteil vom 19.11.2020 - IX ZR 133/19

Anwaltsverträge und das für den Fernabsatz organisierte Vertriebs- und Dienstleistungssystem - Zum Verbraucherwiderruf bei einem ausschließlich über Fernkommunikationsmittel abgeschlossenen Anwaltsvertrag

BGB §§ 312c, 675

Leitsätze:*

1. Anwaltsverträge sind Verträge über die entgeltliche Erbringung einer Dienstleistung im Sinne von § 312 Abs. 1, § 312c Abs. 1 BGB und können als solche den Regeln über Fernabsatzverträge unterworfen sein (BGH, Urteil vom 23.11.2017 - IX ZR 204/16, MIR 2018, Dok. 011, zu § 312b Abs. 1 BGB aF).

2. Steht fest, dass der Unternehmer sowohl für die Vertragsverhandlungen als auch für den Vertragsschluss ausschließlich Fernkommunikationsmittel verwendet hat, wird nach der gesetzlichen Regelung in § 312c Abs. 1 BGB widerleglich vermutet, dass der Vertrag im Rahmen eines für den Fernabsatz organisierten Vertriebs- oder Dienstleistungssystems abgeschlossen worden ist. Es obliegt daher dem Unternehmer, in derartigen Fällen darzulegen und zu beweisen, dass der Vertragsschluss nicht im Rahmen eines für den Fernabsatz organisierten Vertriebs- oder Dienstleistungssystems erfolgt ist (BGH, Urteil vom 12.11.2015 - I ZR 168/14; BGH, Urteil vom 23.11.2017 - IX ZR 204/16, MIR 2018, Dok. 011; BGH Urteil vom 17.10.2018 - VIII ZR 94/17).

3. Ob ein für den Fernabsatz organisiertes Vertriebs- oder Dienstleistungssystem besteht, hängt wesentlich davon ab, auf welche Art und Weise der Unternehmer in seinem Geschäftsbetrieb Vertragsverhandlungen und Vertragsschlüsse ermöglicht. Danach muss er sein Unternehmen personell und sachlich so ausgestalten und organisieren, dass sowohl Vertragsverhandlungen als auch Vertragsschluss regelmäßig und ohne weiteres unter ausschließlicher Verwendung von Fernkommunikationsmitteln jederzeit möglich sind. Ist diese Einrichtung derart ausgestaltet, dass er damit regelmäßig im Fernabsatz zu tätigende Geschäfte bewältigen kann, und bietet er diese Möglichkeit von sich aus aktiv an, liegt ein entsprechendes System vor. Bei einem Rechtsanwalt ist dies etwa der Fall, wenn er seine Kanzlei so organisiert hat, dass gerade für die von ihm erstrebten Mandate typischerweise weder für die Vertragsverhandlungen noch für den Abschluss des Mandatsvertrags eine gleichzeitige, persönliche Anwesenheit von Mandant und Anwalt erforderlich ist und der Anwalt eine Mandatserteilung unter ausschließlicher Verwendung von Fernkommunikationsmitteln im Außenverhältnis gegenüber Dritten aktiv bewirbt. Die nach Abschluss des Vertrags erfolgende Art und Weise der Leistungserbringung ist hingegen unerheblich (vgl. BGH, Urteil vom 07.07.2016 - I ZR 30/15; vgl. auch BGH, Urteil vom 23.11.2017 - IX ZR 204/16, MIR 2018, Dok. 011 - zur Unerheblichkeit späterer persönlicher Kontaktaufnahmen).

4.

a) Ein Rechtsanwalt, der einen Anwaltsvertrag unter ausschließlicher Verwendung von Fernkommunikationsmitteln abgeschlossen hat, muss darlegen und beweisen, dass seine Vertragsschlüsse nicht im Rahmen eines für den Fernabsatz organisierten Vertriebs- oder Dienstleistungssystems erfolgen.

b) Ist ein auf ein begrenztes Rechtsgebiet spezialisierter Rechtsanwalt deutschlandweit tätig, vertritt er Mandanten aus allen Bundesländern und erhält er bis zu 200 Neuanfragen für Mandate pro Monat aus ganz Deutschland, kann dies bei einer über die Homepage erfolgenden deutschlandweiten Werbung im Zusammenhang mit dem Inhalt seines Internetauftritts für ein für den Fernabsatz organisiertes Vertriebs- und Dienstleistungssystem sprechen.

5. Bei einem Rechtsanwalt ein für den Fernabsatz organisiertes Vertriebs- oder Dienstleistungssystem nicht bejaht werden, wenn dieser lediglich die technischen Möglichkeiten zum Abschluss eines Anwaltsvertrags im Fernabsatz, etwa einen Briefkasten, elektronische Postfächer und/oder Telefon- und Faxanschlüsse vorhält, die auch sonst zur Bewältigung des Betriebs einer Anwaltskanzlei erforderlich sind (BGH, Urteil vom 23.11.2017 - IX ZR 204/16, MIR 2018, Dok. 011). Die planmäßige Werbung eines Unternehmers mit dem Angebot eines Vertragsschlusses unter ausschließlicher Verwendung von Fernkommunikationsmitteln spricht demgegenüber für eine Fernabsatzorganisation. Insoweit kann dem eigenen Auftritt eines Anwalts im Internet bei der Beurteilung erhebliche Bedeutung zukommen.

MIR 2020, Dok. 089


Anm. der Redaktion: Leitsätze 4 a) und b) sind die amtlichen Leitsätze des Gerichts.

Die Entscheidung muss genau und mit Blick auf den Einzelfall betrachtet werden. Keinesfalls lässt sich aus der Entscheidung bzw. den dort im vorliegenden Fall bewerteten Kriterien und Indizien „in ganz Deutschland tätig“, „Homepage im Internet“ „Kontakt (...) jederzeit auch telefonisch und elektronisch für interessierte Mandanten“ ein Junktim ableiten, dass nun etwa jedem im Internet in üblicher Form präsenten Rechtsanwalt oder Kanzleien ein „für den Fernabsatz organisiertes Vertriebs- und Dienstleistungssystem“ überstülpt. Vor allem wurde im vorliegenden Fall im Rahmen der „Mandatserteilung“ durchaus wohl aktiv für die örtlich unabhängige Bearbeitung bis hin zur Anbahnung geworben und dies stellt das Gericht letztlich auch als wohl in der Gesamtschau maßgebliche Indiz heraus. Es ist daher durchaus genügend Raum, die nun vom Bundesgerichtshof in - auf den ersten Blick - durchaus lapidarer Form postulierten widerleglichen Vermutung bereits initial die Grundlage zu entziehen. Die gebotene und mögliche Differenzierung ergibt sich entgegen der amtlichen Leitsätze freilich auch aus den Ausführungen des Gerichts selbst, vgl. hierzu insbesondere oben Leitsatz 5. Dabei sollte aber in der Praxis durchaus dann ein Augenmerk auf die Ausgestaltung der Kommunikation gegenüber Verbrauchern gelegt werden, damit eine ohnehin nicht so angelegte Organisation fälschlich Raum für eine falsche Zuordnung bietet. Völlig offen lässt die Entscheidung freilich die Einordnung von Folgemandanten bei Verbrauchermandanten. Diese Frage lässt sich auf Grundlage der gewonnen Kriterien, auch in Zusammenschau mit der Entscheidung IX ZR 204/16 höchstrichterlich nicht sicher, aber denkbar zumindest dahingehend beantworten, dass es sich dem Telos folgend im Einzelfall um eine „Folgekommunikation“ handeln kann, die nicht mehr dem Anwendungsbereich von § 312c BGB unterfällt. (RA Thomas Ch. Gramespacher, Bonn).
Download: Entscheidungsvolltext PDF

Bearbeiter: Rechtsanwalt Thomas Ch. Gramespacher
Online seit: 08.12.2020
Kurz-Link zum Artikel: http://miur.de/3030

*Redaktionell. Amtliche Leit- und Orientierungssätze werden in einer "Anm. der Redaktion" benannt.

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