Rechtsprechung // Wettbewerbsrecht
BGH, Urteil vom 03.04.2014 - I ZR 96/13
Zeugnisaktion - Zur wettbewerbsrechtlichen Beurteilung einer an Schulkinder gerichteten Werbung eines Elektronik-Fachmarktes mit einem Preisnachlass für jede Eins im Zeugnis
UWG Nr. 28 Anh. zu § 3 Abs. 3, § 4 Nr. 1 und 2
Leitsätze:*1. Das Verbot gemäß Nr. 28 des Anhangs zu § 3 Abs. 3 UWG verlangt eine unmittelbare Aufforderung, die beworbenen Waren zu erwerben. Dies entspricht Nummer 28 des Anhangs I der Richtlinie 2005/29/EG über unlautere Geschäftspraktiken, wonach die direkte Aufforderung zum Kauf der beworbenen Produkte untersagt ist. Nach dem eindeutigen Wortlaut dieser Bestimmungen muss sich der Kaufappell auf ein konkretes Produkt oder mehrere konkrete Produkte richten. Es genügt nicht, wenn nur ein globaler Kaufappell ausgesprochen wird. Dazu zählt auch die allgemeine Aufforderung, ein Geschäft aufzusuchen. An einer unmittelbaren Aufforderung zum Kauf der beworbenen Ware fehlt es auch, wenn kein konkretes Produkt genannt, sondern das gesamte Warensortiment beworben wird.
2. Eine Beeinträchtigung der Entscheidungsfreiheit der Verbraucher gemäß § 4 Nr. 1 UWG liegt nach der gebotenen richtlinienkonformen Auslegung dieser Vorschrift nur dann vor, wenn der Handelnde diese Freiheit gemäß Art. 8 und 9 der Richtlinie 2005/29/EG durch Belästigung, Nötigung oder durch unzulässige Beeinflussung im Sinne des Art. 2 Buchst. j der Richtlinie 2005/29/EG erheblich beeinträchtigt (BGH, Urteil vom 29.10.2009 - I ZR 180/07 - Stumme Verkäufer II; BGH, Urteil vom 24.06.2010 - I ZR 182/08 - Brillenversorgung II; BGH, Urteil vom 03.03.2011 - I ZR 167/09, MIR 2011, Dok. 061 - Kreditkartenübersendung).
3. Zu den nach § 4 Nr. 2 UWG besonders schutzbedürftigen Verbrauchergruppen gehören auch Kinder und Jugendliche (vgl. BGH, Urteil vom 06.04.2006 - I ZR 125/03, MIR 2006, Dok. 082 (LS) - Werbung für Klingeltöne; BGH, Urteil vom 17.07.2008 - I ZR 160/05, MIR 2008, Dok. 358 - Sammelaktion für Schoko-Riegel). Im Rahmen dieser Vorschrift ist jeweils der Durchschnitt des von einer Werbemaßnahme angesprochenen Verkehrskreises. Wendet sich der Werbende gezielt an eine bestimmte Bevölkerungsgruppe wie beispielsweise Kinder und Jugendliche, so muss er sich nach § 3 Abs. 2 Satz 2 UWG an einem durchschnittlich informierten, aufmerksamen und verständigen Angehörigen dieser Gruppe orientieren (vgl. Erwägungsgrund 18 der Richtlinie 2005/29/EG; BGH, Urteil vom 06.04.2006 - I ZR 125/03, MIR 2006, Dok. 082 (LS) - Werbung für Klingeltöne; BGH, Urteil vom 17.07.2008 - I ZR 160/05, MIR 2008, Dok. 358 - Sammelaktion für Schoko-Riegel). Handlungen, die gegenüber einer nicht besonders schutzwüdrigen Zielgruppe noch zulässig sind, können dementsprechend gegenüber geschäftlich Unerfahrenen unzulässig sein (BGH, Urteil vom 22.01.2014 - I ZR 218/12, MIR 2014, Dok. 081 - Nordjob-Messe).
4. Nicht jede gezielte Beeinflussung von Minderjährigen ist nach § 4 Nr. 2 UWG unlauter. Die konkrete Handlung muss vielmehr geeignet sein, die Unerfahrenheit auszunutzen (vgl. BGH, Urteil vom 22.09.2005 - I ZR 28/03 - Zeitschrift mit Sonnenbrille; BGH, Urteil vom 06.04.2006 - I ZR 125/03, MIR 2006, Dok. 082 (LS) - Werbung für Klingeltöne). Maßgeblich ist, ob sich der Umstand, dass Minderjährige typischerweise noch nicht in ausreichendem Maße in der Lage sind, Waren oder Dienstleistungsangebote kritisch zu beurteilen, auf die Entscheidung für ein unterbreitetes Angebot aus- wirken kann (BGH, Urteil vom 06.04.2006 - I ZR 125/03, MIR 2006, Dok. 082 (LS) - Werbung für Klingeltöne; BGH, Urteil vom 22.01.2014 - I ZR 218/12, MIR 2014, Dok. 081 - Nordjob-Messe). Eine Ausnutzung der Unerfahrenheit ist zu bejahen, wenn die bei einer an Minderjährige gerichteten Werbung erhöhten Anforderungen an die Transparenz nicht erfüllt werden. Den Kindern und Jugendlichen muss deutlich werden, welche finanziellen Belastungen auf sie zukommen (vgl. BGH, Urteil vom 06.04.2006 - I ZR 125/03, MIR 2006, Dok. 082 (LS) - Werbung für Klingeltöne; BGH, Urteil vom 17.07.2008 - I ZR 160/05, MIR 2008, Dok. 358 - Sammelaktion für Schoko-Riegel).
5.
a) Eine unmittelbare Aufforderung zum Kauf gemäß Nr. 28 des Anhangs zu § 3 Abs. 3 UWG setzt voraus, dass sich der Kaufappell auf ein konkretes Produkt oder mehrere konkrete Produkte richtet. Daran fehlt es, wenn in der Werbung kein konkretes Produkt genannt, sondern das gesamte Warensortiment beworben wird.
b) Die im Rahmen einer "Zeugnisaktion" an Schulkinder gerichtete Werbung eines Elektronik-Fachmarktes mit einem Preisnachlass für jede Eins im Zeugnis verstößt nicht gegen § 4 Nr. 1 und Nr. 2 UWG, wenn für die Kinder aufgrund der Werbung der Umfang der Preisermäßigung klar erkennbar ist.
Bearbeiter: Rechtsanwalt Thomas Gramespacher
Online seit: 09.12.2014
Kurz-Link zum Artikel: http://miur.de/2659
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