Rechtsprechung
Hanseatisches OLG, Urteil vom 24.07.2007 - 7 U 98/06
Herkunftslandprinzip - Sind die Voraussetzungen für einen Unterlassungsanspruch nach dem Recht eines Staates im Geltungsbereich der RL 2000/31/EG mit den deutschen Anspruchsvoraussetzungen identisch, so steht § 3 Abs. 2 TMG einem solchen Anspruch nicht entgegen.
TMG § 3 Abs. 2; Richtlinie 2000/31/EG
Leitsätze:*1. Die Regelung des § 3 Abs. 2 TMG modifiziert das allgemeine Deliktsrecht
dergestalt, dass im internationalen Dienstleistungsverkehr der Telemedien
eine Haftung nach allgemeinem deutschen Deliktsrecht ausgeschlossen ist,
wenn sich innerhalb des Geltungsbereichs der RL 2000/31/EG nach dem nationalen
Recht des Herkunftlandes keine Haftung ergibt.
2. Bei der Prüfung der Zulässigkeit einer gewerbsmäßigen grenzüberschreitenden
Äußerung ist in Anwendung des § 3 Abs. 2 TMG zunächst zu prüfen, ob nach den
allgemeinen deutschen Haftungsbestimmungen ein Unterlassungsanspruch besteht.
Ist ein solcher Anspruch zu bejahen, ist weiter zu prüfen, ob dies auch nach
der für den ausländischen Dienstleistungsanbieter maßgeblichen Rechtsordnung
der Fall wäre. Ist dies nicht der Fall, verbietet sich grundsätzlich gem.
§ 3 Abs. 2 TMG eine Verurteilung des ausländischen Anbieters durch ein deutsches
Gericht.
3. Die Berichterstattung über eine begangene Straftat unter Namensnennung
des Täters stellt aufgrund der negativen Bewertung und Stigmatisierung des
Betroffenen in der Öffentlichkeit regelmäßig eine erhebliche Beeinträchtigung
des Persönlichkeitsrechts dar. Gleichzeitig begründet die Tatsache der
Rechtsverletzung ein öffentliches Interesse hinsichtlich der näheren Tatumstände.
So gehören Straftaten zum Bereich des Zeitgeschehens, welches durch die Medien
vermittelt wird.
4. Im Einzelfall sind die für den Täter entstehenden Nachteile gegen das
Informationsinteresse der Öffentlichkeit abzuwägen. In der Regel ist davon
auszugehen, dass innerhalb einer aktuellen Berichterstattung über
schwere Straftaten eine Namensnennung des Täters zulässig ist. Ergeben sich
hingegen aus der Person des Täters (Stellung, Bekanntheit, bisheriges
Verhalten) oder der Straftat keine besonderen Umstände, so kann dem Schutz des
Straftäters vor einer öffentlichen Preisgabe seines Fehlverhaltens unter voller
Namensnennung der Vorzug zu geben sein.
5. Ein besonderes öffentliches Informations- und Unterhaltsinteresse an der
Mitteilung kann sich daraus ergeben, dass es sich bei dem Straftäter
um einen in der breiten Öffentlichkeit bekannten Schauspieler handelt.
6. Alleine aus dem Umstand, dass eine fiktive Figur der breiten Öffentlichkeit
bekannt ist, kann noch nicht geschlossen werden, dass die Zuschauer nicht
zwischen der Figur und ihrem Darsteller unterscheiden können. Auch bei Rollen
wie die eines Kriminalkommissars kann nicht automatisch davon ausgegangen werden,
dass die Öffentlichkeit den hinter der fiktiven Gestalt stehenden Schauspieler
als eine moralische Instanz ansieht, deren Bild in der Berichterstattung
korrigiert werden müsste. Eine andere Bewertung kann sich aber ggf. ergeben,
wenn sich der Schauspieler auch außerhalb seiner Rolle als Vorbild oder
"Moralapostel" präsentiert.
7. Die Grenzen der Ermessensausübung des Tatrichters bei der Anwendung fremden
Rechts werden durch die jeweiligen Umstände des Einzelfalls gezogen. Je
komplexer und fremder im Vergleich zum eigenen das anzuwendende Recht ist,
umso höhere Anforderungen sind an die Ermittlungspflicht zu stellen. Die
Parteien können mit ihrem unstreitigen oder kontroversen Vortrag die
Anforderungen an die Ermittlungspflicht maßgeblich beeinflussen.
Bearbeiter: RA Alexander Schultz
Online seit: 01.11.2007
Kurz-Link zum Artikel: http://miur.de/1409
*Redaktionell. Amtliche Leit- und Orientierungssätze werden in einer "Anm. der Redaktion" benannt.
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